Kinder und Schmerzen

Kinder und Schmerzen bei Kindern
Joel dreht solange das Kaleidoskop vor seinem Auge hin und her, bis er endlich die Frösche entdeckt. Der vierjährige soll operiert werden, da seine Vorhaut zu eng ist (Phimose). Seine Mutter ist bei ihm, während Joel auf dem OP-Tisch liegt. Der Anästhesist legt die Infusion für die Narkose, Joel schaut derweil nach den Fröschen. Da die Haut vorher mit einem speziellen Pflaster betäubt wurde, spürt Joel den Stich in den Handrücken nicht. Ein paar Sekunden später schläft Joel ein. Von der Operation wird er nichts zu spüren bekommen. Doch Schmerzen lassen sich nicht immer vermeiden. Kinder und Schmerzen. Zum Alltag gehört dies vor allem bei kleinen Kindern. Sie fallen vom Roller, vom Wickeltisch oder stoßen sich an Möbelkanten. Im Sandkasten kommt es zudem vor, dass das eine Kind dem anderen die Schaufel im Streit um Spielsachen auf den Kopf schlägt. Und die Eltern kleben Pflaster, trocknen Tränen, kuscheln und trösten. Kinder und Schmerzen.
Doch Schmerzen im Kinderleben müssen nicht unbedingt sein, aber leider gibt es auch diese. Dr. Joachim Mehler, Facharzt für Anästhesie in Bonn, sagt, dass Kinder rund um eine Operation möglichst wenig Schmerzen spüren sollten. Das gleiche gelte für ärztliche Untersuchungen. Relativ neu ist allerdings diese Einsicht. Denn man ist lange dem Irrglauben erlegen, das Babys und Kinder nur wenig oder gar keine Schmerzen empfinden würden. Und es sei bloß so eine Art Reflex, wenn sie schreien oder weinen. Kinder und Schmerzen.
Bei Operationen am Herzen wurden bis weit in die 1980er Jahre in den USA Frühgeborene nur ruhig gestellt. Schmerzmittel bekamen sie nicht. Auch bei uns wurden Beschneidungen häufig ganz ohne Narkose durchgeführt. Das Frühgeborene aber nicht nur Schmerzen spüren, sondern darauf sogar empfindlicher als reif geborene Babys reagieren, weiß man mittlerweile. Ohnehin mehr unter Schmerzen als Erwachsene leiden Kinder generell. Und zwar weil Kinder Schmerzen als bedrohlich empfinden, sagt Dr. Mehler und nicht weil die Schmerzen an sich stärker sind. Schließlich wüssten Kinder nicht, ob ein Schmerz gleich wieder vorbei oder der Anfang einer nicht enden wollenden Katastrophe seien. Dass dies jetzt gerade weh tue, aber gleich wieder vergehe, begreifen Kinder erst im Schulalter. Trotzdem haben Sie Angst, das verstärkt den Schmerz. Kinder und Schmerzen.
Bei Kindern ist es besonders diffizil den Schmerzen auf die Spur zu kommen. Schließlich können sie oftmals nicht einmal genau sagen, von wo der Schmerz kommt. Wenn er Kopfschmerzen hat, weint ein Dreijähriger nicht über diese, sondern jault: “Mein Bauch tut weh”. Denn kleine Kinder projizieren ihre Schmerzen gern in Richtung Bauchnabel, da sie noch keine genaue Vorstellung von ihrem Körper haben. Und der Bauch bildet das Zentralorgan der Kinder. Auch die Stärke des Schmerzes können Kinder noch nicht explizit schildern. Auszudrücken, wie sehr ein Schmerz weh tut, damit tun sich selbst Vorschulkinder noch schwer. Auf die Verwendung von Schmerzskalen sind deshalb Ärzte beispielsweise nach Operationen angewiesen. Vier schematische Gesichter, die unterschiedliche Schmerzintensitäten ausdrücken, legt man den Kindern dabei vor. Dann sollen die Kinder auf das Gesicht zeigen, das am besten zu ihrem momentanen Schmerzempfinden passt. Indem man unterschiedliche Schmerzäußerungen wie krümmen, sich winden, schreien, weinen, jammern usw. beobachtet, dokumentiert, analysiert und mit Punkten bewertet, misst man die Schmerzen bei Kleinkindern und Babys. Kinder und Schmerzen.
Privatdozent Dr. Boris Zernikow, Chefarzt des Vodafone Stiftungsinstituts für Kinderschmerztherapie in Datteln erklärt, dass diese Schmerzskalen leider nur in den Kliniken und Arztpraxen Anwendung fänden, in denen das Personal entsprechend kompetent ist. Dass Kinder in Deutschland immer noch mehr Schmerzen erleiden als Erwachsene, zu diesem Schluss kommt der Experte. Warum das so ist, dahingehend fügt er noch weitere Gründe hinzu:
Erstens kämen über die Hälfte aller Kinder, die stationär operiert und behandelt werden müssen, nicht in eine Kinderklinik, sondern würden auf Erwachsenen-Stationen untergebracht. Da es dort aber kaum Fachpersonal gibt, ist die Schmerztherapie für Kinder miserabel. Es gibt also kaum jemanden auf der Station, der sich um die Schmerzen frisch operierter Kinder kümmert, so wie dies bei Erwachsenen üblich ist. Kinder und Schmerzen.
Zweitens nähmen bei Kindern chronischer Bauch- und Kopfschmerzen zu. Trotzdem fehle es an speziellen Ambulanzen. Hinzu käme, dass die meisten Schmerzmittel nicht für Kinder zugelassen seien, da es an wissenschaftlichen Studien fehle. Ärzte handeln auf eigene Verantwortung und ohne offizielle Dosierungsempfehlungen, wenn sie solche Schmerzmittel trotzdem verschreiben oder verabreichen. Deshalb werden viele Schmerzmittel falsch dosiert. Kinder und Schmerzen.
Weil Eltern aus übertriebener Vorsicht eine generelle Abneigung gegen Medikamente haben, kommt noch hinzu, dass sie die Gabe von Schmerzmitteln oft ablehnen. Dass auch Schmerzen schlimm und GIft für Kinder sein können, haben die Eltern dabei meistens nicht im Blick. Schließlich werde durch Schmerzen nicht nur momentanes Leid verursacht. Schmerzexperte Dr. Zernikow erläutert, dass sich starke Schmerzen in das so genannte Schmerzgedächtnis eingraben. Dass die Schmerz verarbeitenden Systeme im Körper sich ändern und empfindlicher werden, seien die gravierenden Folgen. Bereits bei kleinen Reizen spüren Kinder dann schon große Schmerzen. Chronisch werden können zudem immer wiederkehrende Schmerzen, die nicht ernst genommen und behandelt werden. Auch dann, wenn man die Schmerzursache längst beseitigt hat.
Auch als Erwachsener ist derjenige in verstärktem Maße für Schmerzen anfällig, der bereits als Kind unter chronischen Schmerzen gelitten hat. Es gibt also keine wirksame Schmerztherapie oder die richtigen und richtig dosierten Medikamente. Dazu gehören auch ganz starke Mittel wie beispielsweise Morphin, wenn es bei Bedarf wie beispielsweise nach Operationen vonnöten ist. Nicht nur auf Schmerzmittel stützen darf sich hingegen die Behandlung chronischer Bauch- und Kopfschmerzen. Entspannungstechniken wie beispielsweise die progressive Muskelrelaxation nach Professor Jacobson sind hier unabdingbar. Damit der Schmerz keine Macht über das Leben der Kinder bekommt, müssen diese lernen den Schmerz wegzudenken und diesem positive Bilder entgegenzusetzen. Zusätzlich kann eine Psychotherapie bei psychosomatischen Schmerzen helfen, zu denen beispielsweise familiäre Konflikte oder Schulängste beitragen können. Kinder und Schmerzen.
“Ich traue Dir zu, dass Du die Schmerzen aushältst”, ist eine Botschaft, die betroffene Kinder von ihren Eltern brauchen. Dr. Zernikow unterstreicht, dass gute beispielsweise Rahmenbedingungen neben Medikamenten bei Untersuchungen und Operationen Angst und Schmerz nähmen. Dies können kinderfreundlich gestaltete Räume, möglichst kurze Wartezeiten und ein Kind gerechtes Aufklärungsgespräch mit dem Arzt sein. Kinder und Schmerzen.
Körperkontakt der Eltern, Beruhigung und Zuwendung, sowie Ablenkung helfen bei Untersuchungen beziehungsweise unmittelbar vor der Spritze. Manche Kinder spüren die Spritze nicht, wenn sie gleichzeitig einen Luftballon aufblasen, einige Kinder lassen sich durch ein Spielzeug in der Hand ablenken. Es gibt auch Kinder, die dabei ganz fest die Hand ihrer Mutter drücken oder singen. Egal, was: die Kinder sollen in jedem Fall das tun, was sie vom inneren Druck befreit. Auch wenn es schwer fällt, ist es dabei sehr wichtig, dass die Eltern ruhig und gelassen bleiben. Denn es überträgt sich auf das Kind, wenn die Eltern ängstlich oder angespannt sind. Auch ehrlich sein kann helfen. Man sollte den Kindern lieber ohne Umschweife vermitteln, dass es gleich wehtut, das aber schnell vorbei geht, als ihnen zu suggerieren, dass es keine Schmerzen geben wird.
Schließlich dürfen auch Indianer Schmerzen kennen und sich sogar davor fürchten. Gegen ein Anästhesiepflaster vor der Spritze spricht nichts, wenn die Angst besonders groß ist. Dies war bei Joel der Fall. Die Phimose-Operationen ist mittlerweile beendet und hat einen guten Verlauf genommen. Gut gelaunt auf einer Decke mit bunten Mustern sitzt der vierjährige bereits auf dem Kinderbett der Praxis. Die Schmerzen sind wie verflogen, Joel spielt mit seinen Eltern Uno. Kinder und Schmerzen.
Davor, dass etwas nicht stimmt, wird der Körper vor den Schmerzen gewarnt. Schmerzfühler, die am Ende der Nervenfasern platziert sind, befinden sich unter der Haut. Auf Reize wie Verletzungen oder Hitze reagieren diese. Im Rückenmark wird dann sofort ein muskulärer Abwehrreflex ausgelöst, nachdem die Nervenfasern den Schmerz bereits dorthin geleitet haben. Von da aus gelangt der Reiz ins Gehirn, nachdem wir blitzschnell zusammengezuckt sind. Im Gehirn wird er mit den Bereichen für Gefühle und Gedanken gleich geschaltet. Den Schmerz, den wir meistens als negativ bewerten, spüren wir erst jetzt. Dann wird dem Rückenmark vom Gehirn signalisiert, die Schmerzen zu dämpfen. Morphium ähnliche Stoffe ausgeschüttet werden bei extremem Schmerz. Kinder werden von chronischen Schmerzen aufgrund der engen Verschaltung von Gefühl und Schmerz ganz besonders belastet. Kinder und Schmerzen.
Dass sich die Schmerz leitenden Nervenbahnen bereits zwischen der 26. und 32. Schwangerschaftswoche ausbilden, erklärt Dr. Christoph Hünseier, Oberarzt der Neonatologie an der Uni-Kinderklinik Körn. Erst nach der Geburt funktioniert allerdings die körpereigene Schmerzabwehr. Das  Frühgeborene deshalb besonders Schmerz empfindlich sind, heißt dies im Umkehrschluss. Auch im Hinblick auf eine Prophylaxe von Folgeschäden ist eine gewissenhafte Schmerztherapie deshalb sehr wichtig. Folgeschäden können chronische Schmerzen, Verhaltensstörungen oder eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit sein. Ein Frühchen braucht aber nicht nur die notwendigen schmerzlindernde Maßnahmen, damit es keine Schmerzen spürt, sondern auch Schutz vor Kälte, Lärm, Licht und Stress. Außerdem sollte die Mutter sehr oft bei ihm sein.
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